Die Phileasson-Saga: Wie der Wind in der Wüste

Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko

aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson

 

Ottaskin der Hetleute, Thorwal

10. Firun 1009 nach Bosparans Fall

 

Nur eine leichte Brise weht über dem weiß verschneiten Kliff Thorwals. Aus dem Prunkjolskrim der Hetleute dringen die fröhlichen Geräusche der Zecher nach draußen. Durch die mit Pergament verhangenen Fenster kann man erkennen, dass sich in der Großen Halla zahlreiche Nordmänner um den großen Eichenholztisch versammelt haben. Am Kopfende des großen Tisches sitzt der Kapitän der Glutströhm-Ottajasko, Asleif Phileasson. Dieser lässt sich gerade nochmals Premer Feuer in sein Trinkhorn füllen und stürzt den scharfen Branntwein mit einen Zug herunter, ehe er zu den anwesenden Thorwalern gewandt beginnt, mit der Erzählung seiner Saga fortzuführen:

„Nagillah war nichts besonderes, lediglich ein kleines Städtchen direkt an der Zedernstraße. Angeblich gab es dort sogar einen eigenen Sultan, aber so klein wie die Stadt war, schätze ich, dass dies lediglich Gerüchte waren. Einen Tag später kamen wir dann in der Nähe von El'Trutz an endlosen Zitabhar-Feldern vorbei, ein tulamidisches Rauschkraut, musst du wissen. Ich glaube ich habe Wulf selten so erfreut gesehen wie damals, das Wohl! Später sind wir auf einen zwergischen Trupp Drachenjäger gestoßen, die irgendeinen Hranngar-Wurm in den naheliegenden Bergen  des Raschtulswalls zur Strecke bringen wollten. Lobenswerte Idee, bei Swafnir!

Während den ersten Tage der Reise haben sich Wulf, Hakon und Roban mit dem Bettlerjungen Mechmed angefreundet. Der kleine Tulamidenjunge war Feuer und Flamme, als ihm die beiden den Kampf mit Schwert, Schild und Kriegshammer näher brachten, der hatte das Herz wirklich am rechten Fleck. Ob er es wohl mit Ben Aram und Beorn bis nach Brokscal geschafft hat? Wenige Tage später überquerten wir dann die Passstraße zwischen dem Raschtulsturm und dem Khoramgebirge und gelangten so in die Geröllfelder am Rande der eigentlichen Khôm. Hier war es bereits spürbar heißer als noch auf der anderen Seite der Gebirgsketten. Abends erreichten wir die Oase Alam-Terekh. Von den Mauern der Karawanserei konnte man im Efferd bereits die endlosen Weiten des Erg erkennen. Wenn man einmal dort gestanden hat versteht man zum ersten Mal wirklich, wieso die Khôm auch Sandwüste genannt wird, das kannst du mir glauben. In Alam-Terekh haben wir überraschenderweise auch Abdul el Mazar wiedergetroffen. Noch immer sah man ihm die Entbehrungen durch die langjährige Gefangenschaft im Kerker Pardonas an, doch sein Geist schien ungetrübt zu sein – Niamh Goldhaars heilender Elfenzauber schien also dauerhaft geholfen zu haben. Abdul war zusammen mit Tarlisin von Borbra – genau, der Lokalherrscher von Borbra, den ich bereits erwähnt habe – ebenfalls unterwegs in die Khôm, um dort seine Forschungen, die ihm einst die Aufmerksamkeit Pardonas bescherten, fortzuführen. Nicht die beste Idee wie ich meine, ich hoffe der Novadi hat es diesmal besser erwischt, denn seit der Begegnung in der Khôm habe ich nichts mehr von dem Magier gehört.

Am nächsten Tag ließen wir dann endgültig die Randgebiete der Khôm hinter uns und drangen unter den unerbittlichen Strahlen des Praiosrunds tiefer in die Sandwüste vor. So heiß es am Tag war, so bitterkalt wurde es des Nachts, wenn das Praiosrund am Himmelszelt verschwunden war. Ben Aram hatte in Fasar unzählige Wolldecken, Felle und Schlafsäcke eingekauft und nun merkte ich, dass er dazu auch allen Grund gehabt hatte, das Wohl! Am folgenden Tag sind wir auf einen Reitertrupp der Beni Ankara gestoßen. Hier mussten wir lernen, dass in der Wüste nichts so wertvoll wie Wasser ist – und dass das wenige Wasser nicht für alle zugänglich ist. Die Rast an dem Wasserloch dort kostete uns ein Kamel, dabei war das Wasser brackig und schal. Wüstenpiraten, fürwahr! In der Oase El'Ankhra, die wir am nächsten Tag endlich erreichten, konnte man wenigstens mit barer Münze für Wasser und Übernachtung zahlen. Hier warnte uns ein Haimamud erneut vor den Wüstengeistern – den Beni Geraut Schie –, die angeblich in den Tiefen der Khôm ihr Unwesen trieben. Jenen Kriegern, denen der Nivese Erm Sen einst die Silberflamme abnahm. Nur wenige Tage später sollten wir tatsächlich auf die Beni Geraut Schie treffen, doch waren es keine Geister sondern Elfen aus Fleisch und Blut! Doch gedulde dich noch eine kleine Weile, Mandred, bald werde ich bei meiner Saga zu den Shiannafeya kommen.

Von El'Ankhra ging es dann am nächsten Tag weiter gen Südwesten, jeder Schritt durch die brennende Hitze der Khôm war dabei anstrengend und ermüdend. Nur wenigen Personen unseres Zuges war es vergönnt, auf diesen seltsamen Kameltieren zu reiten, natürlich vornehmlich den Frauen und Kindern sowie den Krüppeln wie dem ehemaligen Krieger Mansour, dem einst nach einer schweren Kriegsverletzung im Dienste des Kalifen beide Beine abgenommen wurden.

Im endlosen Sandmeer des Ergs verliert man irgendwann das Zeitgefühl und so kann ich dir nicht sagen, nach wie vielen Tagen wir endlich am Ziel unserer Reise ankamen – wohl gemerkt unserem Ziel, nicht dem Ziel Ben Arams. Bevor ich aber davon erzähle muss ich erst einmal meine Kehle ölen, das Wohl!“ Mit diesen Worten greift Phileasson sich sein mit Premer Feuer gefülltes Trinkhorn und leert das Horn mit einem einzigen, langen Zug. Während Jorgen Olgulfson dem Hetmann nachschenkt, fährt dieser fort: „Das erste Zeichen der Shiannafeya war brutal. Mitten in der Wüste fanden wir die Leiche einer bleichen Elfe in schwarzer Lederkleidung, deren einstmals makellose und reinweiße Haut von der Sonne verbrannt und rissig war. Die Elfe schien dabei regelrecht gekreuzigt worden zu sein, ihre beiden Arme waren fest in steinernen Säulen verwachsen. Elementarmagie, wie Mythornius bemerkte. Einige Khômgeier hatten sich bereits an den Augen der Elfe gütlich getan. Am beunruhigendsten war aber das Symbol der geflügelten Sonne, welches noch auf dem schwarzen Burnus der Elfe zu erahnen war: Offensichtlich hatten wir hier die Leiche einer Dunkelelfe vor uns! Sollte Pardona und ihre dunklen Elfen etwa hier in der Khôm, fernab der eisigen Heimat, einen würdigen Gegner gefunden haben? Und tatsächlich, in Kei Urdhasa war die finstere Pardona samt ihren düsteren Elfen nicht mehr an der Seite Beorns anzutreffen. Die tote Dunkelelfe vor uns war ein Opfer der Shiannafeya geworden.

Wenig später kamen uns dann einige vermummte Gestalten auf edlen Elfenrössern entgegen. Die Anführerin der Reiter nahm den Schleier vom Gesicht und stellte sich uns als Urdiriel von den Shiannafeya – was man am Besten mit Wüstenelfen übersetzen kann – vor. Wir waren mehr als nur überrascht als uns Urdiriel erklärte, dass man uns und insbesondere den Träger Selflanatils bereits erwarten würde. Der Träger des Largala'hen hingegen sei schon seit einigen Tagen in Kei Urdhasa angekommen. Beorn war also wieder einmal vor uns. Eins muss man dem Blender ja lassen, Thorn, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat dann ist er davon nicht mehr abzubringen, das Wohl!“ Thorn Beornson hat einen wehmütigen Zug um die Mundwinkel, als er dem Hetmann bestätigend zunickt. Dieser hebt kurz sein Trinkhorn in die Runde, entscheidet sich dann aber doch gegen einen Trinkspruch auf den Blender und erzählt seine Saga weiter:

„Urdiriel und ihre Schar führte uns dann in die Oase Kei Urdhasa, die wir ohne ihre Hilfe wohl niemals gefunden hätten. Die Zelte waren allesamt sandfarben und so perfekt hinter Sanddünen versteckt, dass der unbedarfte Reisende einfach an dieser Oase vorbei zieht. Im Lager der Shiannafeya trafen wir dann auf Beorn und seine Leute. Natürlich trug der Blender den Kelch Largala'hen angeberisch herum, aber das störte uns nicht weiter, hatten wir doch in Selflanatil ein mindestens ebenbürtiges Artefakt erlangen können. Ach, eine Magierin hatte er seit Fasar auch bei sich, das habe ich vorhin vergessen zu erwähnen. Thalia war ihr Name, eine recht junge und arrogante Magierin. Dieser Elf Falnokul in Beorns Begleitung warf Ungrimm immer wieder hasserfüllte Blicke zu, die dieser allerdings größtenteils nicht zu bemerken oder zu ignorieren schien. Na ja, wer wie Ungrimm kämpfen kann, braucht sich wohl auch nicht vor einem einzelnen Gegner zu fürchten, das Wohl! Von Pardona in der Gestalt Lenyas fehlte allerdings jede Spur, ebenso von ihren finsteren Schergen. Natürlich wollten wir – allen voran unsere Geweihte Shaya – wissen, was mit Lenya geschehen war. Doch Beorn blieb größtenteils wortkarg und so konnten wir nur erfahren, dass die falsche Lenya sich irgendwo in der Khôm von ihm getrennt hatte. Etwa ein Verdienst der Shiannafeya? Urdiriel und ihre Leute wurden mir mit einem Mal gleich nochmals einen ganzen Batzen sympathischer, das Wohl!

Urdiriel klärte uns auch über den Ursprung der Shiannafeya auf. Einst waren ihre Vorfahren Bewohner Tie'Shiannas, der Hauptstadt der Hochelfen. Als die Gleißende schließlich von den namenlosen Horden geschliffen wurde, flohen die Hochelfen in die Welt hinter den Nebeln. Einige wenige der Elfen beschlossen jedoch, die Hinterlassenschaften der Gleißenden bis zur Rückkehr des Hochkönigs zu bewahren. Doch dieser kehrte nie zurück. Innerhalb weniger Jahrhunderte verwandelte sich der blühende Garten um das gefallene Tie'Shianna in die lebensfeindliche Khôm und so gewöhnten sich die Nachfahren dieser Elfen an ein Leben in der Wüste – und wurden zu den Shiannafeya, den Wüstenelfen. Nach und nach gingen auch die beiden bedeutendsten Artefakte der Orima – das Schwert Selflanatil und der Kelch Largala'hen – verloren. Die Shiannafeya glaubten, dass erst mit der Rückkehr dieser beiden Artefakte nach Kei Urdhasa das Leid der Elfenvölker ein Ende nimmt und die Kultur der Hochelfen erneut aufblühen wird. Deswegen sandten sie auch immer wieder Krieger aus, die Schwert und Kelch finden und wieder nach Kei Urdhasa bringen sollten. Dieser Nantiangel aus Vallusa war ein solcher Krieger und ebenso Lailath, die seltsame Elfe, die uns im Tal der Türme verraten hatte. Mit diesem Wissen erschienen ihre Handlungen allerdings in einem neuen Licht, waren es doch ursprünglich Menschen, die Kelch und Schwert raubten. Die Gerüchte um den Stamm der Wüstengeister – der Beni Geraut Schie – sind indes dem Totenkult der alten Elfen geschuldet. Denn wann immer ein Elf starb wurde sein Leichnam dem Meer überlassen, um so über die Insel Gontarin in das Totenreich unter den Wellen eintreten zu können. Die Sucher nun lebten mit der allgegenwärtigen Gefahr, abseits eines jeden Meeres ihren Tod zu finden und so wurden sie mit einem Zauber belegt, welcher ihren Körper nach ihrem Tode in Staub verwandelte. So konnten ihre sterblichen Überreste mit Hilfe des Windes über kurz oder lang schließlich doch das Meer erreichen. Tja, die Kampfkraft dieser verschleierten Elfen zusammen mit den zu Staub werdenden Leichnamen haben dann natürlich die Geschichten über Wüstengeister entstehen lassen, das Wohl!“ Phileasson nimmt einen Schluck aus seinem Trinkhorn, dann spricht er weiter:

„Am nächsten Tag führte uns Urdiriel – also sowohl mich und meine Ottajasko als auch Beorn und seine Leute – zu den Ruinen Tie'Shiannas, um dort Kelch und Schwert wieder in die Hände Orimas zu übergeben. Jene Orima, von welcher bereits die vierte Prophezeiung Shayas im winterlichen Bornland kündete!

Wulf war von der Aussicht, die Silberflamme wieder herzugeben, natürlich alles andere als begeistert. Die Ruinen der einstigen Hauptstadt waren einige Meilen von Kei Urdhasa entfernt und waren komplett unter dem Sand der Khôm begraben. Dies also war der seit Äonen unter Sand begrabene, lebendige Stein, von welchem unsere Aufgabe sprach! Urdiriel beschwor einen mächtigen Erzgeist und dieser begann, die Ruinen der einstmals Gleißenden für uns freizulegen. Schon bald standen wir vor wahrlich titanischen Mauern, die das komplette Blickfeld vor uns einnahmen. Überall waren allerdings riesige Stücke aus der Mauer herausgebrochen oder ganze Breschen, sicherlich so groß wie mehrere Ottas, in die Mauern geschlagen. Welche Kräfte hier wohl einst gewütet hatten? Damals hatten wir noch keine Vorstellung davon, doch das sollte sich schon bald ändern. Urdiriel blieb zurück und so betraten wir und auch Beorns Ottajasko vorsichtig und mit gezogenen Waffen die Ruinen dieser gigantischen Stadt. Dann allerdings trennten sich unsere Wege auch schon wieder. Dachte ich damals noch, dass Fasar riesig sei, so belehrten mich die Überreste Tie'Shiannas eines besseren. Hm. Ich denke es wird der Gleißenden nicht gerecht, wenn man sie anhand ihrer Ruinen beschreibt. Soviel sei gesagt, Mandred: Schon bald sollten wir die Gleißende in ihrer ganzen Pracht erblicken. Ich werde die Hauptstadt der Hochelfen erst an diesem Punkt der Saga beschreiben, dies wird der Einzigartigkeit dieser wahrhaft wunderbaren Stadt noch eher gerecht. Also gedulde dich noch ein wenig, Mandred.

Urdiriel hatte uns erklärt, dass wir Kelch und Schwert dem Standbild der Orima überreichen müssen. Diese Statue sei im Rosentempel innerhalb der Stadt zu finden. Im Nordosten der Ruinenstadt fanden wir einen riesigen Platz, der einst der ‚Platz der Alten Götter‘ genannt wurde. Dort standen die Ruinen der Tempel der Zerzal, Nurti und Orima, wie wir später erfuhren. Wie ein uraltes Mahnmal des Grauens ragte im Zentrum des Platzes ein gewaltiger Obelisk inmitten von purpurnen, wabernden Schwaden in die Höhe, die dem Ort einen unwirklichen aber auch gefährlichen Eindruck verliehen. Der Obelisk wurde nach dem Sieg der namenlosen Horden errichtet und zeigt noch heute in aller Grausamkeit, was Kazaks Schergen den Bewohnern Tie'Shiannas einst angetan hatten. Fast noch schlimmer war allerdings die Szenerie, die sich uns vor den Ruinen des Zerzal-Tempels – du erinnerst dich, die Totengöttin der alten Elfen! – bot: Dort lag ein gigantisches Wesen, das einen mächtigen Pferdekopf auf einem menschlichen Torso trug, dessen Beine aber in hufähnlichen Verwachsungen endeten. Ein gewaltiger Speer steckte tief im Herzen dieser Kreatur, doch noch immer lebte dieses Wesen und nahm seit Äonen einen qualvollen Atemzug nach dem anderen. Ein Fluch der elfischen Totengöttin, bei Firun! Heute weiß ich, dass es einst die Hohepriesterin der Zerzal war, die mit dem heiligen Speer der Zerzal den Feldherren des Namenlosen, Kazak watet-im-Blut, niederstreckte. Um den ewig verfluchten Kazak huschten einige Gestalten, lediglich in schäbigen Fetzen gekleidet, umher. Mit Grauen erkannten wir, dass dies wohl die letzten Nachfahren jener Hochelfen waren, die von Kazaks Horden über Generationen in den Ruinen der Gleißenden missbraucht und gequält wurden. Solch ein Schicksal hat nicht einmal einer der Granden Al'Anfas verdient, das Wohl!

Den Rosentempel fanden wir dann am anderen Ende des Platzes der Alten Götter. Dort trafen wir auch wieder auf Beorn und seine Recken. Der prächtige Tempel der Orima, tatsächlich in Form einer riesigen Rosenblüte gehalten, war im Gegensatz zum Rest der Stadt nicht den Horden Kazaks zum Opfer gefallen. Die Priester der Orima hatten nämlich ihren Tempel kurz vor der Eroberung der Stadt in eine andere Sphäre – so nannte es Mythornius – verschwinden lassen und so vor dem Zugriff der namenlosen Zerstörung geschützt. Daher fanden wir dort außer einigen mannshohen, geöffneten Rosenknospen aus Stein nichts weiter vor. Tja, Mut hat der Blender ja, das muss man ihm lassen: Er schritt ohne zu zögern in eine der Knospen und war von einem Augenblick auf den nächsten verschwunden! Natürlich taten wir es ihm gleich und landeten wenig später auf einem steinernen Balkon weit über der Ruinenstadt – wir hatten also tatsächlich einen Weg in das Innere des Tempels gefunden! Vom Balkon führten Treppen nach unten, die allerdings in niederhöllisch verzauberten Räumlichkeiten endeten: So landete man manchmal am Rande eines Lavasees, ein anderes Mal hingegen unter Wasser, bei Swafnir! Der Weg weiter ins Innere des Rosentempels war indes vielversprechender. Wir alle waren dermaßen angespannt und neugierig, dass wir den Zwist zwischen mir und dem Blender erst einmal unbewusst beiseite geschoben haben. Schon bald fanden wir eine weitere Kammer, in welcher Wandbilder von sich waschenden, nackten Elfen zu sehen waren. Der nächste Raum war ein einziges, großes Wasserbecken, der Durchgang zum Raum dahinter wurde uns auf unerklärliche Weise verwehrt. Schließlich kamen wir auf die Idee, dass die Wandbilder im Raum zuvor eine Art rituelle Waschung zu Ehren Orimas darstellten und so taten wir es den dort abgebildeten Elfen gleich. Wir entledigten uns unserer Waffen und auch unserer Kleider – Roban fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er die massiven Titten von Eilif sah, das Wohl! – und wuschen uns im heiligen Wasser des Tempels. Sodann, nur mit Selflanatil und dem Largala'hen in den bloßen Händen, betraten wir das Allerheiligste des Rosentempels.“ Phileasson streckt sich ausgiebig und reibt sich mit den Handflächen über das Gesicht. Der junge Skalde Mandred bringt hastig einen weiteren Satz zu Papier, ehe er gespannt in Richtung des eisblonden Kapitäns blickt. Dieser schaut sich in der gut besuchten Großen Halla um und genießt es sichtlich, dass alle anwesenden Nordmänner wie gebannt an seinen Lippen hängen. Endlich spricht er weiter:

„Dort erwartete uns eine lebensgroße Marmorstatue einer Elfe mit verbundenen Augen: Orima, die elfische Göttin des Schicksals. Wulf zögerte nicht lange und trat mit der Silberflamme vor und wenige Augenblicke später tat es ihm Beorn mit dem Largala'hen gleich. Als das Schwert und der Kelch in die leeren Hände der Statue gelegt wurden, pulsierte die Statue in einem blauen Licht und für einen kurzen Augenblick konnte man einen zufriedenen Gesichtsausdruck im steinernen Antlitz erkennen. Dann erwachte die Statue zum Leben und wir standen vor Orima, einer leibhaftigen Göttin, das Wohl!“ Phileasson macht eine bedeutungsvolle Pause, ehe er weiterspricht: „Wir waren alle wie erstarrt von dem Erscheinen der Orima, doch zugleich hatten wir auch unzählige Fragen, die uns auf den Lippen brannten. Das nun folgende Gespräch mit der Göttin dauerte lange und vieles verstanden wir erst hinterher, manches auch erst nach Wochen oder gar Monden. Für die Zuhörer der Saga ist es aber wohl am Besten, wenn ich das alles so gut es geht zusammenfasse: Orima berichtete uns von Tie'Shianna und dem Fall der Gleißenden durch die Horden des Dhaza. Die Welt hinter den Nebeln war einst ein Rückzugsort der hohen Elfen, die nach dem Fall Tie'Shiannas als Zuflucht genutzt wurde und die noch heute von den Nachkommen der Bewohner Tie'Shiannas bevölkert ist! Einst herrschte der hohe König Fenvarien – jener Fenvarien, von welchem uns bereits Niamh Biangala im Silvanden Fae'denKarene erzählte! – über Tie'Shianna und die Welt hinter den Nebeln. Er allein soll das Volk der Elfen retten können, doch ist sein Schicksal seit dem Fall der Gleißenden ungewiss. Orima gab uns daher die Aufgabe, in der Welt hinter den Nebeln jenen treuen Freund zu finden, der bis zuletzt an der Seite Fenvariens stand und welcher uns daher den Weg zum Hochkönig der Elfen weisen kann. Tja, da standen wir nun vor einer leibhaftigen Göttin und hatten eine göttliche Aufgabe bekommen! Doch auf welchem Wege konnte diese sagenhafte Welt hinter den Nebeln erreicht werden? Auf diese Frage eröffnete uns die Göttin, dass diese Welt nicht auf herkömmlichem Wege zu erreichen sei, denn sie läge jenseits unserer Welt. Dann ging alles sehr schnell und ich bin heute noch beeindruckt von Wulfs schneller Reaktion, das Wohl! Orima sprach, dass der Weg zu den Inseln hinter den Nebeln mit Hilfe jener Flöte möglich sein, die zu ihren Füßen läge. Und tatsächlich, dort lag plötzlich eine beinerne Flöte! Wulf reagierte wie gesagt am schnellsten und rannte los, dicht gefolgt von Beorn. Doch der Andergaster war einen halben Schritt schneller als der Blender und konnte die Flöte Orimas an sich bringen! Von der Schicksalsgöttin wussten wir, dass derjenige, der auf der beinernen Flöte spielt, einen Wunsch frei hat.   

Tja und was hat sich Wulf wohl gewünscht, Mandred? Das werde ich gleich erzählen, doch erst verlangt der Met und das Premer Feuer einmal mehr ein Austreten von mir, das Wohl!“ Als Phileasson zu Ende gesprochen hat steht er langsam auf und blickt in die Runde der gebannten Zuhörer, die die Fortführung seiner Saga offensichtlich kaum erwarten können. Zufrieden grinsend wirft sich Asleif Phileasson einen dicken Wollumhang über und tritt dann nach draußen in die eisige Winternacht.

 

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