Die Phileasson-Saga: Ysilia und die Spuren des Ogerzugs

Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko

aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson

 

Ottaskin der Hetleute, Thorwal

7. Firun 1009 nach Bosparans Fall

 

Auf dem mächtigen Kliff Thorwals zieht bereits die Dämmerung über das Land, und einzelne Schneeflocken schweben in der windstillen, eisigen Luft langsam zu Boden. Zahlreiche Fußspuren sind im kniehohen Schnee zu erkennen, die meisten von ihnen führen in Richtung der großen Ottaskin der Hetleute, die durch einige Pechfackeln einladend erleuchtet ist und ein Versprechen auf eine gesellige Zeit im Warmen verspricht. In der großen Halla sitzen mehr als ein Dutzend Nordmänner, weiterhin ein bleicher Magus und ein irgendwie deplatziert wirkender Waldmensch, in dicke Pelze gehüllt. Der Thorwaler am Kopfende der Tafel, der eisblonde Hüne Phileasson, schabt sich gerade mit einer Gräte seines letzten Bratherings die Essensreste zwischen seinen Zähnen hervor. Mit einem kräftigen Schluck Honigwein spült er die Reste des Fisches herunter, dann blickt er in die Runde und setzt an, seine Saga fortzusetzen:

„Ja, Ysilia. Die Hauptstadt Tobriens, wusstest du das, Mandred? Allerdings war sie zu unserer Zeit lediglich ein Trümmerfeld, und die Tobrier machten die ersten zaghaften Versuche ihre Stadt wieder aufzubauen. Während dem Sturm der Menschenfresser hatten die Ogerhorden Galottas die tobrische Hauptstadt am Yslisee fast komplett dem Erdboden gleich gemacht, so dass wir auch noch Jahre nach diesem grausamen Ereignis von Ysilia kaum mehr zu Gesicht bekamen als den Burgberg, einige Steinmauern und zahlreiche Ruinen. Die Herzogsfamilie residierte zu dieser Zeit natürlich ebenfalls nicht in Ysilia. Mitte des Mondes kamen wir also dort an und trafen lediglich auf einige wenige Bewohner der Stadt sowie zahlreiche Soldaten und Arbeiter des Bautrupps, die allesamt in Zelten und hölzernen Unterkünften hausten. Wir haben durch einfaches Fragen recht schnell herausbekommen, das Beorn bereits einige Tage vor uns hier eingetroffen war. Die Fragerei übernahm – wie fast immer – der Andergaster Wulf, der dieses eine Mal aber ein sehr unglückliches Händchen bewies. Antworten gab es zwar, doch schon bald wurden ihm die Waffen entwendet und er wurde von einem wilden Mob aus der Stadt gejagt. Ich weiß bis heute nicht, was dort genau passiert ist, doch seit diesem Tage spricht der Andergaster immer mal wieder von einem Feldzug gegen Ysilia, um die Stadt erneut dem Erdboden gleichzumachen. Hm … das wirft kein gutes Licht auf meinen Reisegefährten, nicht wahr Mandred? Also streich das lieber. Schreib einfach auf, dass Wulf die Erkundigungen in Ysilia durchgeführt hatte und sich heldenhaft gegen einen Raubüberfall in den Gassen der Stadt zur Wehr setzte. Du weißt ja, Geschichte wird von den Siegern geschrieben, das Wohl!“ Mit diesen Worten prostet der Hetmann seinem Skalden zu, während dieser eifrig die zuletzt geschriebenen Worte auf dem Pergament durchkreuzt. Ynu dreht zufrieden seinen Metbecher in der Hand, denn der Moha war schon immer ein Freund des Andergasters. Asleif nimmt einen tiefen Schluck warmen Honigweins, dann fährt er fort, seine Geschichte zu erzählen, während einzelne Mettropfen ihren Weg von seinem Bart auf die schwere Tischplatte des Eichenholztisches finden:

„Hinterher konnten wir immerhin erfahren, dass Beorns Magierin Belasca auf dem Friedhof der Herzogsstadt ein dunkles, götterlästerliches Ritual am Grab eines der ehemaligen Fechtlehrer aus der Zeit Erm Sens durchgeführt hatte – kein Wunder waren die Bewohner hier nicht gut auf reisende Thorwaler und ihre Mitreisenden zu sprechen!

In den Trümmern des ehemaligen Blutturms, also jenem Turm, in welchem zu früheren Zeiten die Fechtlehrer Ysilias und somit auch Erm Sen wohnten, fanden wir weitere Hinweise, die uns schließlich zu einer kleinen Höhle außerhalb der Stadt führten. Natürlich hat unser neuer Elfengefährte diese Höhle als Erster ausmachen können, in der Wildnis macht einem Spitzohr eben keiner was vor, das Wohl! Dort fanden wir eine Inschrift, die uns davor warnte, hier zu übernachten. Ich kann dir versichern, Mandred, die Warnung hatte einen nur allzu wahren Kern. Der Geist Lailaths, der hier rastlos umherstreifte, sollte uns schon bald großen Ärger machen! Zudem entdeckten wir auch eine Nachricht von Erm Sen. Hm, wie lautete diese doch gleich? Warte, gib mir einen Moment.“ Bei diesen Worten kratzt sich Phileasson am Hinterkopf und nippt gedankenverloren an seinem Met. Kurz darauf nickt der Nordmann bei der wiederkommenden Erinnerung und teilt dem Skalden die Inschrift Erm Sens mit: „Ja, nun fällt es mir wieder ein, so in etwa lautete sie: Diesmal war es anders. Als würde sich ein Schatten von ihr lösen, als sie zu Staub zerfiel. Welcher Fluch lastet auf mir? Habe ich Schuld auf mich geladen? Ich werde dorthin gehen, wo das geflügelte Grauen auf einem Bett aus Gold ruht, um darauf zu warten, das sich mein Schicksal erfüllt.“ Phileasson lehnt sich zurück und streckt zufrieden seine langen Beine aus. Dann lässt er sich von Jorgen sein leeres Trinkhorn nachfüllen und nimmt einen kräftigen Schluck des warmen Getränks, ehe er zu Mandred gewandt fortfährt, seine Geschichte weiterzuerzählen:

„Meine Männer rätselten natürlich eifrig, was es mit dieser Inschrift auf sich hatte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich hierbei kaum beteiligte – Rätsel lösen war noch nie eine meiner Stärken, das Wohl! Aber ist nicht derjenige der fähigste Anführer, der seine Männer nach jenen Fertigkeiten aussucht, die ihm selbst fehlen? Schon bald kamen meine Männer dahinter, dass mit dem geflügelten Grauen auf goldenem Hort nur ein Drache gemeint sein kann. Wir hatten von den Bewohnern Ysilias zwar erfahren, dass Beorn und seine Mannen in die Schwarze Sichel aufgebrochen sind, um dort das Orakel am Purpurberg nach dem weiteren Vorgehen zu befragen, doch mit der Nachricht des verstorbenen Fechtmeistern konnten wir den Ort auch ohne die Hilfe des Orakels festmachen: Es handelte sich sicherlich um die Drachensteine, in welchen bekannterweise der Kaiserdrache Apep sein Unwesen treibt! So war es also entschieden, am nächsten Tage wollten wir in Richtung der mächtigen Drachensteine aufbrechen.

Wir übernachteten aufgrund der Erlebnisse von Wulf außerhalb der tobrischen Hauptstadt in einem verlassenen Bauernhof. Natürlich lies die Inschrift meinen Männern aber keine Ruhe, und so beobachteten sie des Nachts die Gegend um die Höhle, in welcher wir die Inschriften gefunden hatten. Und tatsächlich, dort gingen Geister um! Und nicht genug Mandred, zudem erschien dort eine nackte Frau, die in Adlergestalt zu uns auf den Hof flog und uns sodann dort – wieder in Menschengestalt – ihre Hilfe als ortskundige Führerin anbot. Der Magus hatte die Frau zwar bei ihrer Verwandlung beobachten können, doch konnten wir uns zu dieser Zeit noch keinen Reim auf die Absichten dieser geheimnisvollen Frau machen. Hätten wir zu dieser Zeit schon geahnt, dass es sich bei dieser Frau um Lailath, die letzte der auf der Suche nach Seflanatil ruhelos umherstreifenden Shiannafeya handelte, wir hätten mit dieser ruchlosen Alpgestalt wohl kurzen Prozess gemacht. Doch diese Erkenntnis hatten wir damals noch nicht, und so nahmen wir nach etwas Zögern ihre Hilfe an. Am nächsten Morgen schickten wir dann Mythornius nach Ysilia, um dort Erkundigungen über die Drachensteine einzuholen. Wulf war natürlich nicht dabei, das versteht sich ja von selbst, nicht wahr?“ Bei diesen Worten huscht ein breites Grinsen über das Gesicht des Nordmanns, und auch der in dicke Pelze gehüllte Waldmensch zu seiner Linken muss schmunzeln. Nach einer kurzen Pause fährt Phileasson fort:

„Der Festumer Magus erfuhr, dass in den Drachensteinen das Tal der Türme liegt, und das jenes seinen Namen durch Ereignisse früherer Zeiten erlangt habe. Einst, so sagte man, soll dort der dreiköpfige Drache Yofune gehaust haben, ein grausamer Tyrann, der die dort lebenden Menschen bis aufs Blut aussaugte. Erst als die Menschen sich zur Wehr setzten und zahlreiche Wachtürme zu ihrem Schutz bauten, konnte die Schreckensherrschaft des Hranngar-Kindes gebrochen werden. Seitdem ist das Tal unter dem Namen Tal der Türme bekannt. Zusätzlich gelang es dem Magier, die Tobrier zu überreden, die Ausrüstung unseres Gefährten Wulf wieder herauszugeben. Vielleicht glaubst du mir das nicht, Mandred, doch der Magus kann ganz schön überzeugend sein, ich wünsche niemanden einen Feind wie ihn, das Wohl!

Wenig später ließen wir die zugegebenermaßen recht unfreundliche, tobrische Herzogsstadt hinter uns und zogen in Richtung der ersten Ausläufer des Drachensteingebirges. Des Nachts verschwand allerdings der Al'Anfaner Hakon – mit unseren Pferden! Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er zu dieser Zeit unter irgendeinem Bann der Schwarzelfe Pardona stand. Damals ahnten wir natürlich nichts von alledem, und so mancher von uns überlegte sich voller Grimm, was er mit dem vermeintlichen Verräter anstellen würde, wenn man ihn nur in die Finger bekäme. Wir folgten natürlich sogleich den Spuren und am Morgen fanden wir dann auch drei Pferde, allerdings tot. Wir beschlossen, das Mythornius, Roban und Wulf hinter ihrem alten Gefährten Hakon hinterherjagen sollten, während wir Übrigen direkt weiter in Richtung der Drachensteine zogen. Immerhin war Beorn ja einige Tage vor uns! Wenige Tage später erreichten wir dann die Ausläufer dieser mächtigen Berge, während die anderen Drei der Spur Hakons ebenfalls bis in die ersten Felsmassive des Drachengebirges verfolgten. Roban beschloss daraufhin, den Al'Anfaner alleine weiter zu verfolgen, während die beiden Anderen wieder zu uns gestoßen sind. Frag mich nicht, warum der Nostrier den flüchtigen Hakon alleine verfolgen wollte, Mandred. Er ist manchmal mutig, sehr, sehr mutig – man kann es auch verrückt nennen! Später werde ich dir noch erzählen, wie er schwerverletzt und ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben auf einen widerlichen Spinnendämon zurannte, bei Swafnir! Na, auf jeden Fall hat er Mut, das muss man ihm lassen! Wir beschlossen, noch einen Tag zu warten und dann in die Drachensteine aufzubrechen, um vielleicht dort wieder auf Roban zu stoßen. Nun will ich mir aber erst einmal die Beine vertreten, bevor ich die Geschichte weiterführe!“

Mit diesen Worten leert der Nordmann seinen Metkrug, stellt ihn krachend auf den Eichenholztisch, steht auf und geht langsam nach draußen, um in der eisigen Luft des hohen Nordens frische Luft zu schnappen. Mit gerötetem Gesicht steht er am Eingang der Halla und blickt gen Osten, in Richtung der weit unter ihm liegenden Stadt Thorwal. Wenig später tritt der Moha Ynu neben ihn, weiße Atemwolken bilden sich vor seinem Gesicht. Mit einem fast melancholischem Grinsen wendet er sich Phileasson zu: „Lange schon her, ist es nicht? Ich denken, als ob es gestern gewesen, als wir das alles haben erlebt.“ Der Hetmann nickt gedankenverloren, auch vor seinem Gesicht bildet sich weißer Nebel. Dann antwortet er dem Waldmenschen: „Ja, da hast du wohl recht, Ynu. Es war eine beeindruckende Fahrt, das Wohl. Nun sind wir wieder daheim, doch es ist anders als vor unserer Reise, bei Swafnir …“

 

Anfang   zurück   top   weiter