Die Phileasson-Saga: Beorn der Städtezerstörer

Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko

aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson

 

Ottaskin der Hetleute, Thorwal

11. Firun 1009 nach Bosparans Fall

 

Asleif Phileasson stapft durch den Tiefschnee, welcher sich wie ein eisiger Mantel über das Kliff Thorwals gelegt hat. Es ist weit nach Mitternacht, doch noch immer sitzen in der Großen Halla der Hetleute zahlreiche Nordmänner und warten gespannt auf die Fortsetzung des Reiseberichts von Phileasson. Dieser kratzt vor der großen Tür des Prunkjolskrims Schnee und Eis von seinen schweren Lederstiefeln, ehe er die Halla wieder betritt und sich am Kopfende des großen Eichenholztisches niederlässt. Einmal mehr fällt sein Blick anerkennend auf den enormen Stapel an beschriebenen Pergamenten, der sich mittlerweile auf dem Tisch vor dem jungen Skalden Mandred Ormson angesammelt hat. Asleif schmunzelt, dann spricht er:

„Wahrlich, diese Saga wird viele Verse haben, das Wohl! Nun, Beorn und seine Leute kehrten also zurück nach Brokscal. Noch heute kündigt dort ein Runengrab von dem tapferen Nokian, das Wohl! Der Blender berichtete Aischa von seinem weiteren Vorhaben und schon am nächsten Tag verließ Beorn zusammen mit seinen wenigen, verbliebenen Recken – es waren nur noch Ynu, Wulf Fluxfell, Falnokul, Eilif, Thalia und Baralbus übrig – das Regengebirge und machte sich auf den Weg zurück zum Knüppeldamm am Ufer des Loch Harodrôl. Einige der Bettler, unter ihnen auch der halbstarke Mechmed, wollten den Blender zwar begleiten, doch dieser sah keinen wirklichen Nutzen in den ehemaligen Bettlern aus Fasar und nahm keinen einzelnen von ihnen mit auf seine weitere Reise.

Von Heldenrain ging es dann bis nach El Arrat. Vor Port Corrad schließlich wurde der Knüppeldamm verlassen, denn der Zwischenfall mit dem geblendeten al'anfanischen Sklavenhändler war dort sicherlich noch nicht vergessen worden, das Wohl! In einer kleinen Meeresbucht einige Meilen westlich von Port Corrad versuchten die Recken dann, das Rätsel um das Zauberschiff Taubralir zu lösen. Zuerst versuchten Thalia und Baralbus, den Zauber des Schiffes genauer zu verstehen, doch beide gingen dabei schon bald mit heftigen Kopfschmerzen in die Knie. Schließlich nahm sich Falnokul das Schiff und watete damit in das Wasser des Selemgrunds. Als er bis zu den Schultern im kalten Meereswasser stand hielt er das Schiffsmodell noch immer über der Wasseroberfläche und alle warteten gespannt, ob etwas passieren würde. Dann endlich dehnte und streckte sich das kleine Schiffsmodell unter Knarzen und Ächzen und schon wenig später hatte es die Größe eines ausgewachsenen Olporters erreicht! Falnokul brachte sich schwimmend in Sicherheit und bereits einige weitere Minuten später schaukelte ein schnittiges Segelschiff auf der Dünung des Selemgrunds auf und ab! Als Beorn und seine Männer vorsichtig an Bord gingen nahm der Segler wie von Geisterhand sogleich Kurs auf das offene Meer! Dichter Nebel zog sodann über das Meer und schon bald konnte keiner der Recken auch nur noch seine Hand vor Augen sehen, geschweige denn die Küste Aventuriens. Dann endlich, vielleicht nach Minuten oder gar Stunden, lichtete sich die dichte Nebelwand wieder und die Taubralir segelte auf dem offenen Meer. Keine Küste und kein noch so kleines Eiland war am Horizont auszumachen und auch der Südweiser Beorns spielte völlig verrückt: Beorns Ottajasko war auf dem riesigen Lyr der Inseln hinter den Nebeln angekommen!

Die folgenden Tage und Wochen auf dem Lyr verliefen für den Blender fast vergleichbar zu den ersten Erlebnissen meiner Ottajasko. Auch er erkundete jene Eisinsel, auf welcher sich immer wieder die Erinnerung an die Verfolgung Emetiels und seiner Anhänger durch Pardona und später dem Eingreifen des Gottdrachens Pyr abspielte. Hier verstand Beorn, dass es sich nur um Illusionen handeln konnte, auch wenn diese lebensecht und durchaus tödlich waren, denn das Grab Emetiels im ewigen Eis kannte auch er. In den nächsten Tagen steuerte der Blender noch einige weitere der äußeren Inseln an, ehe er schließlich die Taubralir soweit beherrschte, dass er mit der bloßen Kraft seiner Gedanken die Richtung des Schiffes vorgeben konnte! Statt einem kleinen, selbst zusammengebauten Holzfloß, wie wir es zu Beginn unserer Reise auf dem Lyr hatten, hatte der Blender also nun ein hochseetaugliches Schiff, welches auch noch nahezu perfekt navigierbar war! Und nicht nur das, auch Proviant und Wasser waren an Bord der Taubralir überreichlich vorhanden und füllten sich auf magische Weise immer wieder auf. Selbst die Größe und Form des Schiffes schien sich der Mannschaft und den Gegebenheiten anzupassen. Die Runjas lenkten Beorn wahrlich durch ruhiges Fahrwasser, das Wohl!“ Phileasson nimmt einen Schluck warmen Honigwein, wischt sich einige Tropfen aus dem eisblonden Bart und spricht dann weiter:

„Irgendwann traf Beorn dann auf den Sternenträger Faelandel, der mit seinem Segler Windbringer auf den Weiten des Lyrs unterwegs war. Der Hochelf – dank Falnokul war eine Verständigung möglich, wenn auch nicht einfach! – berichtete dem Blender von den äußeren Inseln und den Erinnerungen an vergangene Zeiten, die sich dort in einem ewigen Kreislauf immer wieder abspielten. Dies hatte Beorn ja größtenteils schon selbst herausgefunden, doch auch von den inneren Inseln und den dort lebenden Elfenvölkern erzählte der Elf. So erfuhr Beorn vom Volk der Meereselfen, aber auch von den Völkern der alten und wilden Elfen. Du erinnerst dich, Mandred, während die alten Elfen versuchten, das Erbe ihrer Vergangenheit zu bewahren und in befestigten Küstenstädten auf der inneren Insel Thiranog lebten, hatten die wilden Elfen mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen und lebten als Jäger und Sammler in den Wäldern Thiranogs. Auch von den immer wieder aufkommenden, kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Alten und den Wilden berichtete Faelandel. Schon bald sah Beorn in den Küstenstädten der alten Elfen nur noch lohnenswerte Ziele für eine echte thorwalsche Kapernfahrt, denn, so sagte er, wenn er jemals an die Gestade Aventuriens zurückkehren sollte, dann nur reich beladen mit Schätzen! Der Blender hatte allerdings weder die Männer noch die Schiffe für solch ein gewagtes Unterfangen und so beschloss er, unter den Clans der wilden Elfen Verbündete für seine Kapernfahrten zu suchen.

In der Nähe der Hafenstadt Djanilla auf Thiranog gingen Beorn und seine Recken schließlich an Land und verbrachten die nächsten Wochen damit, die einzelnen Clans der Wilden aufzusuchen und zähe Verhandlungen zu führen. Irgendwie gelang es dem Blender schließlich, die vielen verfeindeten Clans unter der Führung des jungen Sternenträgers Shadruel zu vereinen, eine durchaus beachtliche Leistung, das Wohl!

In den nächsten Monden ließ Beorn an der Küste Thiranogs nach thorwalschem Vorbild eine Hetburg errichten und zahlreiche Drachenschiffe bauen. Dann endlich war die Zeit gekommen, um auf Kapernfahrt zu gehen. Die Hafenstadt Djanilla fiel unter dem Ansturm von Beorn und den wilden Elfen und der Blender und seine Leute machten dort reiche Beute. Auch die Städte Gwelch, Caldach und Deriono fielen in Beorns Hände und sogar das erste Seegefecht gegen eine Galeasse der Vislani entschied der Blender für sich! Lediglich die stark befestigten Vislani-Städte Bardibrig und Ta'Lisseni waren vor Beorn und seiner Ottajasko sicher! Schon bald hatte er von den alten Elfen den Beinamen ‚Städtezerstörer‘ bekommen und wurde auf ganz Thiranog gefürchtet! Tja, man kann über Beorn sagen was man will, aber plündern kann er wohl, bei Swafnir!“ Bei diesen Worten schaut Asleif Phileasson mit einem Schmunzeln zu Thorn Beornson. Der junge Thorwaler hebt zur Bestätigung seinen Metbecher und nimmt einen tiefen Zug. Asleif tut es ihm gleich, dann spricht er weiter:

„Dann kam schließlich der Tag, an welchem Beorns Drachenschiffe vor der Hafenstadt Pwyll lagen und wir den Blender nach Wochen – für ihn waren es allerdings bereits Monde! – wiedersahen. Die Sache mit den unterschiedlichen Ankunftszeiten habe ich bis heute noch nicht verstanden. Wir gelangten mit der Flöte Orimas viele Wochen vor Beorn auf die Inseln hinter den Nebeln, doch als der Blender endlich die Taubralir fand, gelangte er viele Monde vor unserer Ankunft zu den Elfeninseln. Also entweder reiste Beorn in die Vergangenheit oder wir in die Zukunft. Beide Möglichkeiten sind aber eigentlich unmöglich, das Wohl! Ich habe Mythornius befragt, ich habe Baralbus befragt und ich habe Aleya befragt,“ Bei der Nennung des letzten Namens nickt der Kapitän dem bleichen Schiffsmagier Aleya Ambareth zu, dann redet er weiter: „aber keiner von ihnen konnte mir das wirklich erklären. Wahrscheinlich haben sich die Schicksalsfäden der Runjas ganz einfach gehörig verheddert, das Wohl!“ Mandred und Aleya schmunzeln, während die Meisten der anwesenden Nordmänner lautstark lachen. Phileasson nimmt einen weiteren Schluck Honigwein und lässt sich dann von Jorgen Olgulfson nachschenken, ehe er weiterspricht:

„Auf jeden Fall hatten sich die Wege von mir und dem Blender wieder gekreuzt und die folgenden Erlebnisse auf den Inseln hinter den Nebeln sollten wir zusammen erleben, das Wohl! Auf den Inseln hielt er sein Wort und ich fing fast an, dem Knilch zu vertrauen, doch zurück in Aventurien verriet er mich einmal mehr. Ich versuche ja, nicht schlecht von ihm zu reden, doch das damals war alles andere als ehrenhaft, das Wohl!“ Bei den letzten Worten des Hetmanns blickt der junge Thorn Beornson ausdruckslos auf die Tischplatte und ritzt mit seinem Dolch einige Runen in das Holz. Auch Asleif Phileasson hält einige Zeit inne und unangenehme Stille breitet sich in der Großen Halla aus. Für einen kurzen Augenblick ist nur das Kratzen von Mandreds Schreibfeder auf der Pergamentseite vor ihm in der Halla zu hören.

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