Die Phileasson-Saga: Die Erinnerung an Tie'Shianna

Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko

aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson

 

Ottaskin der Hetleute, Thorwal

10. Firun 1009 nach Bosparans Fall

 

Über dem winterlichen Kliff Thorwals hat der Rondrikan wieder deutlich an Stärke zugewonnen. Einige Männer, alle in dicke Pelze gehüllt und die Mantelkrägen zum Schutz vor dem beißenden Wind hochgezogen, stapfen mühsam durch den tiefen Schnee bis hinauf zur Ottaskin der Hetleute. Der Nordmann in der Mitte ist Asleif Phileasson, der König der Meere. Zu seiner Rechten läuft der Moha Ynu, der Steuermann der ‚Seeadler‘. Zur Linken Phileassons geht der junge Thorn Beornson, Sohn des seit der berühmten Aventurienreise verschollenen Blenders. Vor dem Prunkjolskrim der Hetleute befreien die Männer ihre schweren Lederstiefel von Schnee und Eis und treten dann in die durch blakende Fackeln erhellte Große Halla ein. Dort haben sich bereits zahlreiche Männer und Frauen um den großen Eichenholztisch der Hetleute versammelt und warten gespannt auf die Fortsetzung von Phileassons Bericht über seine Aventurienreise. Der Hetmann legt seinen Pelzmantel ab, setzt sich gemütlich an das Kopfende des Tisches und lässt sich von Jorgen Olgulfson dampfenden Honigwein einschenken. Er nimmt einen tiefen Schluck und wischt sich einige Tropfen des klebrigen Alkohols aus dem Bart, ehe er ansetzt zu sprechen:

„So. Dann will ich also meine Saga weiterführen, das Wohl.“ Zu dem jungen Skalden Mandred Ormson gewandt, der zu seiner Rechten sitzt, spricht er weiter: „Wo habe ich gestern aufgehört? Ach ja, bei der Begegnung mit der Flotte der Vislani. Wie gesagt, wir wurden also auf dem Flaggschiff der Vislani in Gewahrsam genommen und verbrachten die nächsten Tage als Gäste oder genauer gesagt als Gefangene auf dem Schiff. Nach einigen Tagen kamen wir dann endlich im Hafen von Ta'Lisseni an. Unzählige Schiffe der Alten lagen dort vor Anker und sowohl die Hafenanlage wie auch die Stadt selbst waren mit einer riesigen, weiß getünchten Mauer befestigt. Auf den Wehrgängen patrouillierten vollgerüstete Krieger, die, wie wir später erfuhren, Geisterkrieger genannt wurden – beseelte Rüstungen, die durch das Wirken des Zauberschmieds Goibnywn zu kriegerischem Leben erwachten. Wir wurden ohne große Umschweife in den Palast der Stadt geführt, so dass wir von der Stadt selbst nicht allzu viel zu Gesicht bekamen. Doch statt direkt vor die Kommandantin Orristani geführt zu werden brachten uns die Vislani in die Katakomben unterhalb des Palastes. Dort wurden wir in einen großen, recht ansehnlich ausgestatteten Raum geführt. Die Tür wurde hinter uns allerdings verschlossen. Wir waren also weiterhin Gefangene, auch wenn man wahrlich wesentlich schlechtere Kerkerzellen als diese erwischen kann. Dazu hatten wir Gesellschaft: Drei Elfen warteten dort auf ihr Schicksal. Einer war Lynissen vom Volk der Alten aus dem Clan der Tlaskelem, der bei den Vislani in Ungnade gefallen war. Die anderen beiden waren Meereselfen, Gwyrn und Faelanthîr. Der letztgenannte hatte nur noch ein gesundes Auge und trug ein Sternenmal auf der Schulter. Er summte immerzu eine melancholische Melodie vor sich hin. Sie alle warteten hier auf ihre Verurteilung, die ihnen entweder den Tod oder ein Leben in Sklaverei bescheren sollte. Sklaverei, bei Swafnir! Die Alten verkauften nämlich gefangene Elfen als Sklaven an den Schlangenkönig. Jede Welt hat eben ihre Pestbeule voller Sklaventreiber, fürwahr! Nach einiger Zeit eröffnete Faelanthîr uns, dass an der Küste Shaltyrs – also jener Insel, auf welcher wir uns gerade befanden – seine Gefährtin Yrbilya mit ihrem Baumschiff auf ihn warten würde. Mit Faelanthîr und den anderen beiden Gefangenen begannen wir also, unsere Flucht zu planen. Des Nachts gelang es den Elfen schließlich, die magische Sicherung unserer Kammer auszuhebeln und wir schlichen uns an den Geisterkriegern und Wachen der Vislani vorbei bis zur Stadtmauer. Da sich die Dryade Yrbilya mit ihrem Baumschiff auf der anderen Seite Shaltyrs befand, stand uns nun eine Flucht durch den dichten Dschungel im Inneren der Insel bevor!“ Phileasson hält einen Augenblick inne und nimmt einen weiteren Schluck Met, während draußen das Heulen des Rondrikan deutlich zu hören ist. Der Hetmann spricht weiter:

„Bevor ich nun die Saga weiterführe sollte ich noch einige Dinge über die Inseln erklären, Mandred. Shaltyr ist nämlich die letzte der äußeren Inseln, und so spielen sich auch hier immer wieder Sagen und Geschichten der Hochelfen ab. Dabei ist auf jeder der äußeren Inseln der Ablauf der einzelnen Geschichten immer gleich. Man kann zwar in die Geschichte eingreifen – und auch darin sterben, bei Firun! – und auch den Ablauf verändern, doch im nächsten Zyklus geht das Ganze dann einfach wieder von vorne los, so als wäre man niemals an den Ereignissen beteiligt gewesen. Faelanthîr wusste zwar, dass sich im Inneren Shaltyrs immer wieder der Untergang Tie'Shiannas abspielte, doch er war sich sicher, dass der Zyklus dieser Geschichte gerade erst begonnen hatte, wir also an einem Tie'Shianna vorbeikommen würden, welches noch nicht von den Horden des Dhaza belagert wird. Tja, der Elf hatte sich leider geirrt, aber so richtig, das Wohl! Für die Lösung unserer Aufgabe war dieser Irrtum allerdings von großer Wichtigkeit, vielleicht hatten hier ja gar die Runjas ihre Finger im Spiel, bei Ifirn!

Nach der anstrengenden, nächtlichen Flucht zwischen den dicht stehenden Baumriesen des Dschungels sahen wir auf einer großen Lichtung, wie einige, schwer gerüstete Elfenkrieger hoch zu Ross gegen über drei Schritt große, aufrecht gehende und mit Speeren bewaffnete Kröten vorgingen! Leviatanim, magisch begabte Krötenechsen, wie wir später erfuhren. Einmal mehr zögerten wir nicht und griffen auf der Seite der Elfen in den Kampf ein, das Wohl! Es war ein regelrechtes Blutbad und kurze Zeit später lebte keines dieser riesigen Echsenwesen mehr, doch auch auf unserer Seite gab es Verluste zu beklagen. Gwyrn, durch die grässliche Hellebarde eines Leviatans fast in zwei Hälfen gespalten, lag in seinen letzten Atemzügen und wir konnten nichts mehr für ihn tun. Auch unter den Elfenreitern gab es Verluste zu beklagen. Der Anführer des Kriegertrupps, Lariel Sturm-in-den-Zweigen, hielt uns scheinbar für Verbündete und nannte uns Rundohren. Seltsamer noch, unseren Begleiter Faelanthîr begrüßte er freundschaftlich mit dem Namen Adernath, was dieser nur mit einem Stirnrunzeln quittierte. Adernath war, wie wir schon wenig später erfahren würden, der Hauptmann der Aman'Kai, der Leibwache des Hochkönigs Fenvarien, der bis zum Schluss an der Seite seines Königs den Untergang der Gleißenden miterlebte. Wir vermuteten aber bereits damals schon, dass der Sternenträger Faelanthîr die Wiedergeburt dieses Adernaths sein könnte, wir sind ja nicht auf den Kopf gefallen, das Wohl!

Der Elf Lariel jedenfalls bot uns an, mit nach Tie'Shianna zu kommen. Da wir weitere dieser riesigen Echsenkreaturen im Dschungel Shaltyrs vermuteten und wir zudem hofften, dort den Hochkönig Fenvarien selbst zu treffen, nahmen wir dieses Angebot natürlich mit Freuden an.“ Phileasson nimmt das Methorn vom Tisch und dreht das Trinkgefäß einige Augenblicke versonnen in der Hand, ehe er einen tiefen Zug aus dem Trinkhorn nimmt. Dann spricht er weiter:

„Tie'Shianna. Niemals zuvor habe ich solch eine Pracht gesehen, das kannst du mir glauben, Mandred! Höher als das Kliff Thorwals ragten die titanischen Mauern der Stadt gen Himmel und funkelten dabei im Licht des Tages – nicht umsonst wurde Tie'Shianna auch die ‚Gleißende‘ genannt. Die Mauern waren über und über mit prächtigen Reliefs verziert, die die vergangenen Ruhmestaten der Elfenvölker zeigten. Wir betraten die Stadt zusammen mit Lariels Reiterschar durch das rotgoldene Drachentor, dessen gewaltige Ausmaße die Ottaskin der Hetleute klein und schmächtig erscheinen ließ. Die Stadt selbst war riesig, wunderschön und einfach unglaublich, bei Swafnir! Zwar hatten wir in der Khôm die beeindruckenden Überreste der Stadt bereits schauen dürfen, doch die im Sand verborgenen Ruinen sind wahrlich nur ein schwächlicher Abglanz der Pracht und Schönheit, die die Gleißende dem Betrachter in ihrer besten Zeit bot! In der Stadt selbst gab es aus lebenden Pflanzen gewachsene Häuser, den wunderschönen Rosentempel der Orima, die Tempel der Nurti und Zerzal und natürlich den gewaltigen und beeindruckenden Palast des Hochkönigs selbst, um nur einige der vielen Wunder der Stadt zu nennen. Orm hätte das sicher um Welten besser und anschaulicher beschreiben können, bei Firun.“ Asleif Phileasson atmet schwer seufzend aus und hält einen Augenblick inne. Dann hebt er sein Trinkhorn und ruft in die Runde: „Auf den guten alten Orm! Möge er in den Hallen Swafnirs zechen und schmausen, bei Swafnir!“ Die anwesenden Nordleute prosten dem Hetmann mit ihren Methörnern lautstark zu, während der sichtlich gerührte Mandred mit versteinerter Miene sein Trinkhorn zwischen den Händen hält. Nachdem die Ehrbekundungen der Thorwaler nach und nach wieder verstummen, setzt Phileasson seinen Bericht fort:

„So prächtig Tie'Shianna auch war, so erschreckend waren die unnennbaren Horden, die sich im Norden der Stadt langsam sammelten und dort ihre Stellungen aushoben. Niemals zuvor habe ich soviel verderbtes Hranngargezücht auf einem Fleck gesehen, bei Swafnirs heiliger Swafskari! Riesige Leviatanim und widernatürliche Wesen halb Mensch halb Schlange – Mythornius nannte diese Wesen Skrechu – bildeten wohl die Führung des Heerwurms, während aufrecht gehende Krokodile – Marus genannt –, Achaz und kleinere Krötenwesen – laut Mythornius waren das Krakonier – den Großteil der Truppen darstellten. Dazu gab es allerdings auch geflügelte Echsen, die als Reittiere genutzt wurden und auf Schlingern reitende Marus. Vereinzelt sahen wir sogar gepanzerte Echsen, die so groß wie eine ganze Otta waren und von einem Leviathan geritten wurden! Tja, und mögen die verfluchten Hranngarkinder unserer Zeit auch dumm wie ein Stockfisch sein, die Echsen vergangener Tage waren es nicht, das Wohl! Das Heer der Echsen verfügte über zahlreiche Katapulte und sogar über Belagerungstürme, die in ihrer Größe den titanischen Mauern der Gleißenden in nichts nachstanden!

Nun, wir jedenfalls wurden von Lariel weiterhin als verbündete Rundohren angesehen und wurden daher von ihm zu den Oberbefehlshabern der belagerten Stadt geführt. So trafen wir zum ersten Mal auf Fenvarien-vom-Licht-gestreift, den hohen König der Elfen! Der hochgewachsene Sternenträger trug eine strahlend weiße Rüstung und seine edel geschnittenen Gesichtszüge und sein durchdringender Blick ließen keinen Zweifel an der Willensstärke und der Macht des Hochkönigs aufkommen. Welch unglaublicher Unterschied bestand doch zwischen dieser Erinnerung an den vergangenen Hochkönig und jener bedauernswerter Kreatur, die wir später im Tal der Träume finden sollten! Aber ich schweife ab, über das Tal der Träume werde ich zu gegebener Zeit noch berichten.

Neben Fenvarien trafen wir auch auf die Harfnerin Niamh Goldhaar, die wir erst vor wenigen Wochen in ihrem Zauberwald im Bornland zum ersten Mal getroffen haben. Damals lud sie uns im Silvanden Fae'denKaren auf das Eiland Oisin ein, jene Insel, welche sie nach ihrem Geliebten Oisin benannt hatte, der während dem Fall Tie'Shiannas sein Leben ließ. Hier hingegen lebte Oisin noch und so standen wir auch ihm oder besser gesagt der Erinnerung an ihn gegenüber. Daneben war auch die Hochelfe Ipalisa, die Trägerin von Selflanatil, anwesend.

Im Hintergrund standen einige Krieger der Aman'Kai, der Leibgarde des Hochkönigs. Da gehören meine Recken und ich mittlerweile ja auch dazu, das Wohl!“ Bei diesen Worten nippt Phileasson grinsend an seinem Honigwein, ehe er mit seiner Saga fortfährt:

„Auch der Anführer der Aman'Kai, der Sternenträger Adernath, war anwesend. Wir waren uns nach dem seltsamen Verhalten Faelanthîrs und der Begrüßung Lariels mittlerweile fast sicher, dass Faelanthîr tatsächlich die Wiedergeburt des Hauptmanns der Aman'Kai war, auch wenn wir keinen endgültigen Beweis dafür hatten. Faelanthîr jedenfalls war sichtlich verwirrt, während die Erinnerung von Lariel und die restlichen Hochelfen sich nicht weiter an dem doppelt vorhandenen Elfen störten. Ich hoffe du kommst noch mit, Mandred. Die ganze Sache mit den lebensechten Bildern und Erinnerungen an Personen und Orte vergangener Zeiten war und ist ganz schön verwirrend, bei Swafnir! Damals flehte ich zu Frenjara und den anderen Windgestalten, damit mein Geist durch all diese Verwirrungen keinen Schaden nehmen möge, das Wohl!

Auf jeden Fall hatten wir nun recht sicher den königlichen Gefährten aus der Prophezeiung Shayas gefunden: Entweder Lariel Sturm-in-den-Zweigen, den Anführer der Reiterschar Tie'Shiannas, oder eben Adernath, der Hauptmann der königlichen Leibgarde!“ Phileasson hält kurz inne und streckt sich ausgiebig. Dann erzählt er weiter:

„Da standen wir nun also und erfuhren nach und nach, wie schlecht es wirklich um das belagerte Tie'Shianna stand. In den nächsten Tagen schlossen die Heerscharen der Unnennbaren ihren Belagerungsring um die Stadt. Die Zeit auf Shaltyr verging aber anders als wir es gewohnt waren und ein ums andere Mal wachten wir plötzlich auf und mussten erfahren, dass bereits Tage oder gar Wochen vergangen waren. Mythornius vermutete, dass während den Erinnerungszyklen der einzelnen Elfengeschichten immer nur bestimmte, wichtige Ereignisse in ihrer ganzen Länge stattfinden, während die Zeit zwischen diesen Ereignissen wesentlich schneller als normal vergeht. Ich schätze er hatte damit recht, zumindest sagte mir auch mein Zeitgefühl so etwas in der Art, das Wohl!“ Phileasson hebt sein leeres Methorn und winkt Jorge Olgulfson herbei, welcher ihm warmen Honigwein nachschenkt. Der Hetmann nickt dem braunhaarigen Diener dankend zu, nimmt einen tiefen Schluck und stellt dann sein Trinkhorn geräuschvoll wieder auf den schweren Eichenholztisch. Dann wischt er sich einige Tropfen des klebrigen Alkohols aus seinem blonden Vollbart, ehe er endlich mit seinem Reisebericht fortfährt:

„Nun standen wir also in der von Echsengezücht eingeschlossenen Elfenstadt, das Wohl! Zwar hatten bisher noch keine nennenswerten Angriffe stattgefunden, doch meine Recken erinnerten sich an ein Detail, welches Niamh damals in ihrem Zauberwald erzählte: Ihr Geliebter Oisin starb einst im Kampf gegen einen riesigen Lindwurm, welcher sich unter den Mauern Tie'Shiannas einen Weg bahnen wollte. Die Erinnerung an Oisin indes hielt sich noch höchst lebendig in der Stadt auf und daher ließ ich den Elfen durch Hakon beobachten, um den katastrophalen Kampf gegen den Hranngarwurm möglichst frühzeitig erkennen zu können.

Adernath – also das Abbild des einstigen Adernaths, nicht unser Begleiter Faelanthîr! – wurde wenige Tage später nach Vayavinda geschickt, um dort Hilfe für das belagerte Tie'Shianna zu holen. Wir konnten Fenvarien nicht von dieser Idee abbringen und so blieb uns nichts anderes übrig, als auf die Rückkehr Adernaths zu hoffen. Zwar wussten wir damals wie gesagt noch nicht sicher, dass Adernath jener königliche Gefährte aus Shayas Vision war, doch wir sahen es als höchst wahrscheinlich an.

Nun aber komme ich zu einem epischen und gewaltigen Teil meiner Saga, Mandred. Ynu war dabei, er kann dir alle Heldentaten meiner Ottajasko bestätigen, das Wohl! Diese gewaltige Schlacht um Tie'Shianna verdient es jedoch, ohne Unterbrechung erzählt zu werden. Lass mich also noch kurz den ganzen Met loswerden, damit ich ohne eine drückende Blase von der Schlacht um die Gleißende zu erzählen vermag!“ Mit diesen Worten leert Phileasson sein Trinkhorn mit einem letzten, großen Zug. Dann steht er auf, streckt sich und zieht sich dann seinen dicken Pelzmantel an. Dann tritt er hinaus in die beißende Kälte des winterlichen Thorwals und wenig später zerrt der stürmische Rondrikan an dem gelben Strahl des Nordmanns.

Einige Minuten später tritt der eisblonde Hetmann erleichtert wieder in die Wärme der durch blakende Fackeln erhellten Halla, lässt sich von Jorgen Olgulfson Met nachschenken und setzt sich dann mit einem Ächzen wieder auf seinen hölzernen Stuhl am Kopfende des Tischs. Asleif Phileasson blickt kurz in die Runde der anwesenden Thorwaler, dann nickt er zufrieden und setzt an, seine Saga fortzuführen:

„So, Mandred, nun also zu der Schlacht um Tie'Shianna. Zuerst ließen die Heerführer der Echsen nur wenige Hundertschaften Achaz, Marus und Krakonier gegen die titanischen Mauern der Gleißenden anstürmen. Die Hranngarkinder fielen natürlich wie Schmeißfliegen unter den Pfeilen der Verteidiger. Vor allem Mythornius wütete wie der stürmische Rondrikan in den Wintermonden: Er schmetterte einen flammenden Feuerball nach dem anderen in die anstürmenden Echsentruppen und unzählige dieser Kreaturen vergingen in den lodernden Flammen seiner Magie. Es war wohl das Wasser aus der heiligen Quelle der Nurti, welches dem Festumer Magier solch gewaltige Macht verliehen hat. So wie damals hatte ich den Magier zuvor noch nie gesehen, das kann ich dir sagen!

Am nächsten Tag wurden wir erneut von Fenvarien zum Kriegsrat gerufen. Auch Lariel, Niamh und Oisin waren wieder anwesend, dazu der düstere Elf Tharkath, der Stellvertreter Adernaths sowie die Katzenfrau Sconjis. Du hast richtig gehört, Mandred, eine Katzenfrau! Sconjis ging aufrecht, war aber am ganzen Körper stark behaart und hatte den typischen Kopf einer Katze. Dumm kam sie mir allerdings nicht vor und auch reden konnte sie genau wie wir Menschen auch. Dachten wir zu Beginn des Kriegsrats, das wir erneut nur aus Höflichkeit gegenüber den verbündeten Rundohren eingeladen worden waren, wurden wir schon nach wenigen Minuten eines Besseren belehrt.

Der Hochkönig berichtete uns, dass die fliegende Garde im Norden des Heerlagers entdeckt haben, wie die Skrechu auf einem riesigen Platz ein mächtiges Ritual vorbereiteten. Die fliegende Garde waren übrigens Elfenkrieger auf geflügelten Pferden, Pegasi genannt. Das hatte ich noch nicht erwähnt. Dabei wurde auch beobachtet, wie einige besonders große Edelsteine immer gegen Abend in eine Höhle nahe des Ritualplatzes gebracht wurden. Diese Kristalle waren also offensichtlich für das Hranngar-Ritual wichtig, das Wohl! Es galt also, zumindest einen dieser Kristalle zu zerstören. Und hier kamen wir ins Spiel, denn der Hügel war auf magische Weise gegen das Eindringen von Elfen gesichert. Menschliche Sklaven jedoch gingen dort ein und aus und so schien es wahrscheinlich, dass auch andere Rundohren – also wir, bei Firun! – dort ungehindert eindringen können. Tja, was blieb uns also übrig? Wir zögerten nicht lange und schon während der nächsten Nacht schlichen wir uns in das Heerlager der Hranngarbrut. Zwar sind die Echsen während der kalten Nacht alle träge und langsam gewesen, doch wohl war mir in einem Lager mit zigtausenden Echsenkreaturen trotzdem nicht, bei Swafnir! Hätte Raluf noch gelebt, hätte ihn hier sicher die Swafskari übermannt, das Wohl!

Die Höhle stellte sich dann als unterirdisches, weitverzweigtes Gangsystem heraus und schon bald trafen wir auf einige wachhabende Achaz, die wir mit erheblicher Mühe niedermachen konnten. Je tiefer wir in das Höhlensystem eindrangen, desto stickiger und wärmer wurde es, so dass auch die Echsenkrieger dort natürlich wieder aktiver und wacher wurden. Ich sage dir, das war ein Gestank da unten, bei Hranngars Hintern! Zudem lagen überall vertrocknete Häute herum, so als ob sich diese widerlichen Schlangenmenschen gehäutet hätten. Ich bin froh, dass es diese abscheuliche Hranngarbrut heute nicht mehr gibt, das Wohl! Schließlich fanden wir im hinteren Teil einer großen Höhle einen dieser großen Kristalle und Roban und Ungrimm zerstörten ihn mit einigen gezielten Schlägen. Weitere Kristalle konnten wir allerdings nicht finden, denn immer mehr Achaz und Marus drangen auf uns ein und nur mit großer Mühe gelang es uns, einigermaßen unversehrt aus diesem Echsenmoloch herauszukommen.

Als wir dann erschöpft und zerschlagen wieder in der Gleißenden ankamen, gönnten uns die Runjas keine Ruhe, denn die Zeit verging nun plötzlich wieder viel schneller als normal. Erneut wurden wir zum Kriegsrat des Hochkönigs gerufen, doch diesmal ging es nicht um das bevorstehende Ritual der Skrechu – nein, das war schon längst wieder vergessen, bah! –, sondern um den bevorstehenden Großangriff der Belagerer! Adernath war immer noch nicht von seiner Reise nach Vayavinda zurückgekommen, dafür hatte sich aber der Heerwurm vor der Stadt nahezu verdoppelt! Mittlerweile waren auch die Truppen des Dhaza unter dem Oberbefehl des schrecklichen Kazak watet-in-Blut vor den Mauern Tie'Shiannas eingetroffen. Jenes riesige Mischwesen mit einem Pferdekopf, dessen ewige Qual wir in den Ruinen der Gleißenden erst vor wenigen Wochen schauten. Unter den Heerscharen Kazaks befanden sich auch drei Riesen – einer jeder von ihnen so groß wie eine ganze Otta! –, drei riesige Purpurwürmer und dazu unzählige Trolle mit archaischen Steinwaffen, Zyklopen mit schwarzen Zweihändern größer als ein Maultier, fliegende Kriegsschiffe, mannsgroße Hornissen, geritten von ebenso großen, mit Speeren bewaffneten Ameisen und gewaltige Wespen, fast so groß wie ein ausgewachsener Ifirnshai! Auch Minotauren mit schweren Kriegshämmern, Oger mit ganzen Baumstämmen als Keulen, schwer gerüstete Dunkelelfen und noch unzählige weitere, unaussprechliche und ganz und gar unbeschreibliche Alptraumkreaturen befanden sich unter den Heerscharen des Kazak! Den Hauptteil des Heeres stellten allerdings Schwarzpelze, Zwerge und wilde Menschen dar. Von den Mauern Tie'Shiannas konnten wir dann beobachten, wie der blutrünstige Kazak einen der Leviatanim in einem kurzen Zweikampf mit seinem Sichelschwert in zwei Teile spaltete und so auch das Oberkommando über die Streitkräfte der Hranngarbrut übernahm. Tja, und dann begann der Sturm auf die Stadt!“ Phileasson hält einen Augenblick inne und kratzr sich gedankenverloren am Hinterkopf, ehe er weiterspricht:

„Die Hranngarbrut und die Horden des Dhaza brandeten nun vereint gegen die Mauern der Gleißenden an, doch die Elfenkrieger auf den Mauern hielten tapfer dagegen. Auch wir, so kann ich ohne Übertreibung sagen, verdienten uns in dieser gewaltigen Schlacht einen Ehrenplatz an Swafnirs Seite, das Wohl! Während wir auf den Mauern riesige Sturmleitern umstürzten, grimmige Ameisenreiter von ihren Reithornissen schlugen und versuchten, dem Beschuss der Dunkelelfen, Zwerge und Menschen weit unten am Fuße der Mauern auszuweichen, ging Oisin hinab ins Dunkle. Unter den Mauern Tie'Shiannas, tief im Herzen der Erde, kämpfte er zusammen mit dem Erzherren N'Draas gegen den schrecklichen Drachenwurm Achorhobai, der dabei war, sich einen Weg in die Stadt zu bahnen. Oisin besiegte den Wurm, doch er bezahlte dafür mit seinem Leben.

Die Schlacht tobte Stunden, Tage und Wochen. Wir kamen kaum zur Ruhe, denn die ereignislosen Zeiten zwischen den Kämpfen verliefen auf Shaltyr viel schneller als die Kampfhandlungen selbst. Ich weiß noch wie mir zu dieser Zeit wirklich jeder Muskel und Knochen meines Körpers schmerzte, doch wir und die Hochelfen konnten den Ansturm der Horden ein ums andere Mal abwehren!

Dann jedoch führte die Falschheit des Dhaza zum Fall Tie'Shiannas: Vor dem mächtigen Drachentor sammelte sich der Großteil der Belagerer, um dort mit gewaltigen Rammböcken endlich den Durchbruch zu erreichen. Fenvarien schickte daraufhin den Großteil seiner Krieger zum Drachentor, eine Entscheidung, die den Hochkönig der Elfen noch für viele Jahrhunderte quälen sollte! Der Truppenaufmarsch vor dem Drachentor war nämlich nur eine Illusion, um die Verteidiger von dem eigentlichen Angriff auf das Löwentor auf der anderen Seite der Stadt abzulenken! Dort brach der schreckliche Kazak selbst durch das Tor und seine blutrünstigen Horden folgten ihm durch die Trümmer des ehemals gewaltigen Löwentors! Schnell formierten wir uns neu und stellten uns den eindringenden Gegnerhorden entgegen, doch es war zu spät! Viele Helden wurden in diesen letzten Stunden der Gleißenden geboren, nur um wenige Augenblicke später schon unter den Klingen der Angreifer zu fallen. Dianissa, die Anführerin der Zerzalgarde und oberste Priesterin der Todesgöttin, stellte sich zusammen mit ihren Kriegern dem riesigen Kazak in den Weg. Auf dem Platz vor dem Tempel der Zerzal stießen die Elfenkrieger dem schrecklichen Pferdemann den heiligen Eichenspeer der Zerzal tief in den Leib, so dass dieser auf ewig sterbend vor dem Tempel der Zerzal zusammenbrach. Dianissa und ihre Gefährten bezahlten diese Heldentat allerdings mit dem Tod.

Wir deckten indes zusammen mit den wenigen verbliebenen Aman'Kai den Rückzug der Bewohner Tie'Shiannas in die Palastanlage des Hochkönigs. Unzählige Oger, Trolle und Zyklopen fielen unter unseren Hieben, doch für jeden getöteten Feind strömten gleich drei neue Feinde durch die riesige Bresche, dort, wo sich vor wenigen Minuten noch das trutzige Löwentor erhoben hatte. Die Horde drängte uns immer weiter zurück und wir dachten schon, wir finden in dieser lebensechten und brutalen Illusion tatsächlich unseren Tod, bei Firun!

Niamh sah den unausweichlichen Fall der Gleißenden und erschuf magische Tore, mit denen die wenigen noch lebenden Bewohner Tie'Shiannas entkommen konnten. Auch Niamh flüchtete durch ein Tor, während Fenvarien und seine Aman'Kai die Tore bis zum letzten Augenblick gegen die Horden des Dhaza mit ihrem Leben verteidigten. Da endlich erschien Adernath auf einem geflügelten Pferd am Himmel über der fallenden Stadt und unzählige Pegasi-Reiter aus Vayavinda folgten ihm! Die Verteidiger schöpften neue Hoffnung, die jedoch nicht lange andauern sollte. Einer nach dem anderen fiel unter den Hieben der anstürmenden Gegner und schließlich, während die Erinnerung an den Fall Tie'Shiannas um uns herum langsam verblasste, sahen wir auch den Fall des Hochkönigs. Fenvarien wurde zusammen mit Adernath von den Horden des Dhaza gefangengenommen, während die übrigen Aman'Kai von den blutrünstigen Ogern zerfleischt wurden.“ Asleif Phileasson hält inne, nimmt einen Schluck kalt gewordenen Honigwein und blickt dann nachdenklich in die Runde. Thorn Beornson prostet dem Hetmann zu und nickt anerkennend. Asleif prostet dem Sohn Beorns zu, leert dann sein Trinkhorn und stellt es gedankenverloren wieder auf die Tischplatte des schweren Eichenholztisches. Dann spricht er weiter:

„Dies war also der Untergang Tie'Shiannas. Wir standen wieder, erschöpft und zerschunden, inmitten grüner Baumriesen, von der Gleißenden und all den Toten war nichts mehr zu sehen. Die Erinnerung an die letzten Tage der Gleißenden waren vorbei, doch Gwyrn weilte nicht mehr unter uns, denn so wirklich die Erinnerung auch erschienen war, so tödlich war sie auch, das Wohl!

Immerhin wussten wir nun sicher, wer mit jenem königlichen Gefährten in Shayas Vision gemeint war: Adernath! Der Hauptmann der Aman'Kai wurde zusammen mit seinem Hochkönig gefangengenommen, fand also während dem Fall Tie'Shiannas nicht den Tod. Doch offensichtlich starb er irgendwann später, denn die Wiedergeburt Adernath – Faelanthîr nämlich – stand direkt neben uns! Der königliche Gefährte war also gefunden, doch so oft wir Faelanthîr auch befragten, er konnte sich an sein früheres Leben als Adernath nicht erinnern!

Da wir jedoch auch noch immer die Vislani im Nacken hatten beschlossen wir ein Problem nach dem anderen zu lösen: Zuerst mussten wir Shaltyr hinter uns lassen, dann konnten wir uns immer noch um die verloren gegangene Erinnerung Faelanthîrs kümmern! Also folgten wir Faelanthîr durch den dichten Dschungel der Insel bis zur Küste, um dort mit dem Baumschiff seiner Geliebten Yrbilya diese unwirtliche Insel endlich hinter uns zu lassen, das Wohl!“ Nach diesen Worten blickt Phileasson erneut in die Runde seiner Zuhörer. Dann spricht er:

„Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe von dieser ganzen Sache ordentlich Hunger bekommen, das Wohl! Eine epische Saga wird mit vollem Magen besser erzählt als mit einem knurrenden Magen, bei Travia! Jorgen, tisch uns ordentlich auf, auf das wir uns für die kommenden Stunden stärken können!“

Jorgen Olgulfson nickt grinsend und verschwindet schnellen Schritts aus der Großen Halla. Kurze Zeit später werden längliche Holzbretter mit geräuchertem Fisch und knusprigen Brot in die Halla getragen und schon bald dringen die Geräusche der schmausenden Nordmänner durch die mit Pergament verhängten Fenster aus der Wärme der Großen Halla hinaus in die eisige Nacht über dem tief verschneiten Kliff der Stadt Thorwal. 

 

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